Quelle: Saarbrücker - Zeitung (veröffentlicht am 17.03.2016) von Oliver Spettel
Für Familie Haselmaus wird die Luft in Spiesen-Elversberg etwas dünner. Wer in der Nähe des Fußballstadions wohnt, muss sich auf einen Umzug gefasst machen. Wir hatten die Gelegenheit im Rahmen unserer Serie „Ich lebe gerne . . .“ exklusiv-fiktiv mit einem Vertreter der Art zu sprechen
Bilchi ist noch ganz schön verschlafen, als wir uns treffen. Leicht orientierungslos reibt er sich die kleinen Knopfaugen, streckt sich und gähnt erst einmal herzhaft. „Du musst entschuldigen“, kommt es sehr, sehr langsam Wort für Wort aus dem kleinen braunen Wesen heraus. Es wirkt so, als sei er nach Monaten zum ersten Mal wach geworden. „Ich bin extra früher aufgestanden“, beteuert Bilchi. „Normalerweise schlaf' ich ja locker von Oktober bis April.“
Ganz so entspannend sei der Schlaf in diesem Winter irgendwie gar nicht gewesen. „Albträume“, sagt Bilchi. Er habe schon lange gewusst, dass er mit seiner Verwandtschaft werde umziehen müssen. „Irgendwas haben wir mitbekommen mit Parkplätzen für das große Stadion“, versucht sich das immer noch schläfrige Geschöpf zu erinnern. Sie hätten sich alle total gut versteckt, als auf einmal Menschen mit Klemmbrettern, Kameras und allerlei komischem Gerät durch den Wald gestapft kamen. Persönlich getroffen habe er außer dem Autor dieser Zeilen noch keinen von ihnen. „Außerdem sind wir ja sowieso erst unterwegs, wenn es dunkel wird.“
Dann hätten die Experten aber ihre Nester gefunden und Reste von ihrem Essen auch. „Von der Haselnuss schaff' ich nur den Kern. Den Rest bekomme ich einfach nicht runter“, erzählt Bilchi fast entschuldigend. Natürlich würde niemand aus der Familie gerne die Heimat verlassen. So richtig verstehen könnten er und die anderen es auch nicht, warum gerade dort, wo sie im lichten Wald ihre Heimat hatten, gebaut werden muss – das daumengroße Geschöpf schluckt – „aber lieber ziehen wir um, als hier zu sterben“. Dass sie umkommen, habe ja auch von den Menschen keiner gewollt, weiß Bilchi. Immerhin hätten die intensiv nach seiner Familie gesucht. Im Wald hätten die Haselmäuse sogar gehört, dass sie der Grund für eine lange Bauverzögerung seien. „Das hat uns ja fast schon ein bisschen leidgetan.“ Außerdem hätten sie Glück gehabt, überhaupt entdeckt worden zu sein. „Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das für uns ausgegangen wäre, wenn die hier einfach angefangen hätten.“ Das Haselmäuschen schüttelt sich. Ein bisschen traurig stellt es fest, dass ein „bisschen“ dann doch angefangen wurde.
Von den Bäumen in seiner einstigen Heimat steht kein Einziger mehr. „Das muss ich unter meiner Wurzel wohl verschlafen haben“, seufzt er und blickt sich auf einmal erschrocken um. Dann Erleichterung. „Uff. Gott sei Dank stehen wenigstens die Wurzeln noch. Dort schläft meine Familie.“
Bilchi ahnt, dass die Zeit des Abschieds aus dem gewohnten Waldstück näher rückt. So lange die Wurzelstöcke stehen, kann nicht gebaut werden, weiß auch Bilchi. „Meine Verwandten“, sagt er, „ sollen aber ruhig noch ein bisschen schlafen“. Es wird wohl früh genug passieren, dass Fallen mit leckeren Dingen aufgestellt werden. „Wenn man so lange geschlafen hat, braucht man ja auch ein anständiges Frühstück. Da kann, glaub' ich, keiner von uns widerstehen.“ Außerdem sei das ja gar nicht so schlimm. Die Menschen hätten einander schon erzählt, wo sie die Mäuse hinbringen wollen. „Gar nicht so weit weg“, erinnert sich der Haselmäuserich. „Ich hoffe, dass alles gut geht und alle richtig Kohldampf haben, wenn sie wach werden.“
Denn nur wer in die Falle gehe, könne hinterher auch wieder bei der Familie sein. Zwar sei keiner von ihnen gefragt worden, als die Zerstörung ihrer Heimat beschlossen wurde, aber trotzdem freue er sich – wenn auch gezwungener Maßen – auf den Neuanfang.
Als zweijährige Haselmaus im besten Alter – seine Oma war sechs geworden – habe er schließlich noch viel vor. „Und wenn das sonstwo ist, dann ist es eben so.“ Ein mutiger und reiselustiger Cousin mütterlicherseits habe ihm erzählt, dass es auf der anderen Seite der Straße auch jede Menge Wald und Nahrung gebe. „Brombeerbüsche zum Futtern und Klettern, Himbeeren, Haselnüsse, Schlehen und Bucheckern“, gerät er ins Schwärmen.
Feinde wie Eulen, „die komischen Füchse“ und Wiesel gebe es sowieso überall. „Da muss man halt aufpassen.“ Zwar sei seine Art nach allem, was man so von den Menschen im Wald gehört habe, durch die EU („keine Ahnung, was das ist“) geschützt. In Spiesen-Elversberg lebe er mit seiner Familie aber besonders gerne, „weil wir das Gefühl haben, dass wir trotz unserer Winzigkeit doch wahrgenommen werden und man uns so gut es eben geht zu schützen versucht“.
Zum Abschied hat Bilchi dann noch eine bescheidene Bitte: „Sag denen, dass ich keine Maus bin. Ich bin ein Bilch, daher mein Name.“ Seine nächsten Verwandten seien die Siebenschläfers, die Gartenschläfers und die Baumschläfers. Sie alle würden gerne S-c-h-l-a-f-e-n, betont Bilchi ganz so, als wolle er sich noch ein Nickerchen gönnen, bis die „Umzugshelfer“ kommen. Ich habe verstanden.
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